Woran sie glaubten

Ihre religiöse Oberzeugung haben sie als Mennoniten bei ihrer Einwanderung aus Friesland, aus Flandern und aus der Schweiz mitgebracht. Sie kamen als Glaubensflüchtlinge ins Weichseldelta, weil sie sich zuvor geweigert hatten, ihre Glaubensgrundsätze aufzugeben. Welches sind diese Grundsätze, um deren Willen sie Verfolgung und Vertreibung auf sich genommen hatten? 


Berufung auf die Bibel

Bei allem berufen sich unsere Vorfahren auf die Bibel. Deshalb sind den nachfolgenden Grundsätzen jeweils zwei Schriftstellen aus dem Neuen Testament zugeordnet: 


Erwachsenentaufe

  • nur auf Wunsch, nach gründlicher Einführung in die Bibel
  • Math.28, 19, Mark. 16,15-16

Wehrlosigkeit

  • Ablehnung jeglichen Militärdienstes
  • Math.5,21 ff., Math.26, 51-52

Eidesverweigerung

  • Auch vor Gericht und der Obrigkeit hat ein schlichtes "ja" volle Gültigkeit
  • Math.5, 33-37, Jak. 5, 12 

Trennung von Kirche und Staat

  • Die Obrigkeit ist nicht zuständig in Glaubensfragen, die Kirche enthält sich einer politischen Tätigkeit
  • Math.22,15-22, Joh. 18,36

Konnten unsere Vorfahren ungehindert nach diesen Glaubensgrundsätzen leben? Preußen unter Friedrich dem Großen zählte damals zwar zu den wenigen toleranten Staaten dieser Erde, aber dennoch lassen sich hier nicht alle Glaubensgrundsätze problemlos in die Tat umsetzen. Die zahlreichen Reibungspunkte, welche es mit der neuen preußischen Obrigkeit bei der Umsetzung der Glaubensvorstellungen im täglichen Leben gibt, werden aus dem nachfolgenden Dokument deutlich. Am 7. Juni 1773 überreicht eine Delegation westpreußischer Mennoniten Friedrich dem Großen eine Bittschrift. Darin wird um die Bestätigung der folgenden Rechte gebeten: 

  1. Die freie Ausübung des Glaubens laut der mennonitischen Konfessionan an allen Orten, wo es die Notwendigkeit erfordert, gottesdienstliche Versammlungen zu halten, zu predigen, zu taufen, das Abendmahl zu halten und Kirchenzucht zu üben. 
  2. Die anjetzo in Gebrauch habenden Bethäuser nicht nur ungehindert zu reparieren, sondern, wo es die Notwendigkeit erfordert, neue zu bauen. 
  3. Die Kinder von eigenen Schulmeistern lehren oder nach Belieben zu anderen Schulmeistern schicken zu dürfen. 
  4. ... 
  5. Von aller Werbung und Enrllierung (Einberufung) für uns und unsere Kinder jetzt und künftig befreit werden. 
  6. Mit keinem körperlichen Eidschwur über ein gewissenhaftiges "Ja" und "Nein" beschweren zu werden. 
  7. ... 
  8. Die liegenden Güter und Gründe an andere Religionsverwandte verkaufen, auch von denselben wieder Güter .... kaufen zu dürfen 
  9. Bei Todesfällen die Leichen sowohl Erwachsene wie Minderjährige auf den Friedhöfen zu begraben .

Das Prinzips der Wehrlosigkeit

Als Hauptproblem für die Vorfahren erweist sich in Preußen, wie zuvor schon in der Schweiz, die Durchsetzung des Prinzips der Wehrlosigkeit. Solange sie unter polnischer Herrschaft lebten, wurde das ihnen gewährte Privileg der freien Religionausübung und der Schutz vor der "Enrollierung" respektiert. Als bei der ersten Teilung Polens Friedrich der Große am 13.September 1772 ganz Westpreußen (ohne Danzig und Thorn) in Besitz nimmt, werden von ihm das Privileg der freien Religionausübung und der Schutz vor "Enrollierung" zwar bestätigt, die Mennoniten müssen aber von 1773 an als Gegenleistung für die Wehrfreiheit einen jährlichen Betrag von 5 000 Thalern zur Unterhaltung der Kadettenschule in Kulm zahlen. Trotz mancher Übergriffe - junge Mennoniten werden von den "Brandenburgern" gewaltsam in den Soldatendienst gepresst, aber nach Protesten wieder freigelassen - bleibt die Wehrdienstbefreiung gegen Zahlung von Schutzgeld bis 1868 in Kraft. 


Mit einer von Bismark initiierten königlichen Kabinettsorder vom 3. März 1868 wird den Mennoniten auferlegt, ihrer Militärpflicht als Krankenwärter, Schreiber oder Trainfahrer nachzukommen. Das Hauptmotiv für die Einwanderung in die Weichselniederung vor rund 250 Jahren ist damit hinfällig geworden. 


Proteste regen sich. Aus der Gemeinde Heubuden-Marienburg wandern der Älteste, die Mehrzahl der Prediger zusammen mit 55 Familien nach Nebraska, U.S.A., aus. Auch nimmt die Auswanderung nach Rußland wieder zu. Die Mehrzahl der Mennoniten, die Mehrzahl unserer Vorfahren, fügt sich, wenn auch schweren Herzens. Die Umwandlung ihrer Pachtverträge in Eigentum an Haus und Hof im Jahre 1850 hatte viele von ihnen wohl auch seßhaft und bequem werden lassen. 1870 faßt die Danziger Mennonitengemeinde den einstimmigen Beschluß, das Bekenntnis zur unbedingten Wehrlosigkeit aufzugeben. Sie stellen es den jungen Männern frei, zu entscheiden, auf welche Weise sie ihren Verpflichtungen nachkommen wollen. Die Landgemeinden dagegen verpflichten ihre Mitglieder zum Wehrersatzdienst. 

Im ersten Weltkrieg dienen bereits etliche Mennoniten mit der Waffe, im zweiten Weltkrieg alle, hatten doch 1934 die Mennonitengemeinden im Deutschen Reich auf das Wehrlosigkeitsprinzip verzichtet. 


Ein jahrhunderte alter Glaubensgrundsatz, dessen Einschränkung für viele Vorfahren Anlaß war, Folter, Verbannung und Vertreibung oder Auswanderung auf sich zu nehmen, geriet - vorübergehend - in völlige Vergessenheit. Nach dem zweiten Weltkrieg erfolgte vielfach eine Umkehr und Rückbesinnung. Junge Mennoniten, darunter auch viele Mitglieder der Familie, leisten heute als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen Ersatzdienst in sozialen Einrichtungen.


Erzwungene Kirchensteuern

Unter polnischer und später auch unter preußischer Herrschaft müssen die Mennoniten insgesamt über 200 Jahre lang Kirchensteuer an die evangelisch-lutherische Kirche abführen, zusätzlich zu den Abgaben für die eigene Gemeinde. Wie ihre mehrheitlich lutherischen Nachbarn tragen unsere Vorfahren gegen ihren Willen zum Unterhalt des lutherischen Pfarrers und der Kirchengebäude bei. In zahllosen Prozessen versuchen sie sich gegen diese Ungerechtigkeit zu wehren; vergebens! Ein Urteil folgt dem anderen. 


Es ist schließlich der Geduld und die Standhaftigkeit von Franz Wiehler, Fischau, geb. am 18.8.1876 in Preußisch Rosengart, zu verdanken, daß die Zahlung von evangelischer Kirchensteuer ein Ende findet. Mit seiner Klage geht er durch alte Instanzen. In einem abschließenden Urteil des Reichsgerichts vom 19.5.1933 wird die Klage der evangelischen Kirchengemeinde in Fischau kostenpflichtig abgewiesen. Somit kehrt nach Jahrhunderten der Diskriminierung auch hier ein Stück Normalität in die Beziehungen mit der lutherischen Kirche ein, wenn auch erst auf der Basis eines Gerichtsurteils.


Pietismus

Über die pietistischen Anschauungen in der Familie ist wenig bekennt. Gewiß ist jedoch, daß sie existiert haben. Die ländlichen Mennonitengemeinden legten Wert auf eine buchstabengetreue Auslegung der Bibel und mißtrauten dabei jeglicher höheren Bildung, während die Geschäftsleute der Danziger Mennonitengemeinde wohl eher einen weltoffenen, bildungfreundlichen Pietismus entwickelten. 


Über die mennonitischen Gemeinden in den Niederlanden wurde ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Missionsarbeit auf Java und Sumatra unterstützt. 


Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang Franz Wiehler, Thiergartsfelde, geboren am 12. 10.1847. Er studierte als Prediger der Mennonitengemeinde die Schriften der Pietisten Hauser, Murray und Seckendorff, hielt Kontakt mit Offizieren der Heilsarmee. Sein ältester Sohn Franz Wiehler (Thiergarter Ast), geb.in Preußisch Rosengart am 22.3.1875, auch der "heilige" Wiehler genannt, pflegte enge Beziehungen zu Eva von Thiele-Winckler, einer wohlhabenden Dame aus Oberschlesien, welche mit Hilfe ihrer Stiftung "Friedenshorst" in Deutschland zwischen 1910 und 1930 über 40 Kinderdörfer gegründet hatte ("Heimaten für Heimatlose"). Helene Wiehler, Tochter des Johann Wiehler aus Preußisch Königsdorf, geh. am 12. 7. 1860 absolvierte eine Ausbildung in einem dieser Kinderdörfer und konnte ihren Vater überzeugen, auch in Westpreußen solche Kinderdörfer zu errichten. Er schenkteder Stiftung ein Bauernhaus mit Garten sowie eine Kuh. Am 14. September 1916 wurde in Preußisch Rosengart das "Tannenhaus" feierlich eingeweiht. In ihm fanden über 20 Kinder eine Heimat. Wenige Jahre später wurde am gleichen Ort ein zweites Kinderheim, das "Lindenhaus", errichtet. 


Helene Wiehler - sie ist auf dem Fainilienfoto des 1. Wiehler-Tags von 1921 zusammen mit ihrer Schwester Anna Wiehler, geb.ain 19.6.1892 in Diakonissentracht mit weißem Häubchen abgebildet - kam 1945 im brennenden Haus ihrer Eltern um. Die beiden Kinderheime blieben zwar vom Krieg verschont, mußten aber im September 1945 geräumt werden. Die über 40 Kinder wurden vertrieben und fanden nach langen Irrwegen im Frühjahr 1946 in Berleburg, Westfalen, eine neue Heimat. 


Das Gemeindeleben

Über die Organisation des Gemeindelebens können die nachfolgenden Anmerkungen gemacht werden: 

Die Andachten finden sonntags in den Bauernhäusern statt. Sie bestehen aus Gemeindegesang und einer Predigt. Es gibt keine Lithurgie und keinen Altar. Erst 150 bis 200 Jahre nach ihrer Ankunft im Werder errichten die Gemeinden eigene Kirchen. Das hat seinen Grund: Sie fühlen sich nun nicht mehr als Verfolgte auf der Flucht, sondern beginnen allmählich seßhaft zu werden und Vertrauen in ihre Umgebung zu fassen. Die Kirchen sind häufig aus Holz und stets ohne Glockenturm gebaut und innen äußerst schlicht gestaltet. 


Die Gemeindeverfassung ist demokratisch. Anordnungen von oben gibt es nicht. Alle Entscheidungen treffen die Gemeindemitglieder selbst. Sie wählen aus ihrer Mitte den Ältesten, die Prediger und die Diakone (Armenpfleger). Taufen finden am 2.Pfingsttag statt. Der überregionale Zusammenhalt wird durch die "Konferenz der Westpreußischen Mennonitengemeinden" gewährleistet. Sie ist auch für Gemeinde- und Jugendtage zuständig. 

Eheschließungen mit Lutheranem oder Katholiken ("Außentrau") kamen anfänglich nicht vor, wurden aber späterhin, nach langen internen Auseinandersetzungen, geduldet. Um Arme und Hilfsbedürftige der Gemeinde kümmern sich die Diakone. Ein mennonitisches Altersheim befindet sich in Marienburg. 


Unsere Vorfahren im Nationalsozialismus

Wie haben sich unsere Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus verhalten? Hier gibt es weder heldenhaftes noch ehrenrühriges zu berichten. Die Symphatien für Hitler unter der älteren Generation waren kaum vorhanden oder doch zumindest begrenzt. Die mennonitische Jugendorganisation, sie bestand seit 1923 in Westpreußen - zu ihren jährlichen Treffen in Steegen kamen zwischen 300 und 500 Teilnehmer - löste sich 1938 auf Die Umstände dieser Auflösung sind nicht ganz klar. War es eine Selbstauflösung, war sie erzwungen? 

Zulauf fanden die Nationalsozialisten offensichtlich aus den Reihen der jüngeren mennonitischen Landwirte. 

Trotzdem können wir nicht übersehen, daß gerade die jüngeren Bauern mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Durch das Erbhofgesetz und die Entschuldung wurde ihre wirtschaftliche Lage Grundlegend verbessert. Zudem hatte man keine Ahnung von den wirklichen Absichten des Nationalsozialismus.

Das Gemeindeleben nimmt in dieser Zeit dennoch seinen gewohnten Gang. In der Gemeinde Elbing / Ellerwald werden noch 1944 9 Personen getauft. Zu Kirchenaustritten kommt es nicht, obwohl sie propagiert werden. 


Es kann zusammenfassend jedoch festgestellt werden, daß die mennonitischen Glaubensausrichtung der Familie keine durchgängig wirksame Immunität gegenüber der politischen Entwicklung im Dritten Reich zur Folge hat. Dies liegt möglicherweise auch daran, daß die konfessionelle Bindung in Teilen der Familie, wie auch unter den Mennoniten in Westpreußen insgesamt, in dieser Zeit einiges von ihrer früheren Bedeutung verloren hatte.