Flucht, Vertreibung, Neubeginn

So kam es, wie es kommen mußte: Das Leid, welches den Nachbarländern in Deutschlands Namen zugefügt wurde, kam über jene, welche es verursacht hatten. Es traf dabei aber nicht nur die Schuldigen, sondern auch Unschuldige, Alte, Frauen und Kinder. 


Der große Exodus begann am 23. Januar 1945. Im Unterschied zu den früheren Wanderungen der Familie, war diesmal nicht die eigene religiös motivierte Willensentscheidung ausschlaggebend, sondern der politische Größenwahn eines ganzen Volkes. Eine 400 Jahre alte Siedlungsgeschichte, ein 400 Jahre altes Gemeindeleben in vertrauter Umgebung finden quasi über Nacht ein abruptes Ende. 


Hans-Joachim Wiehler aus Klettendorf, geb. am 8.7.1930 schreibt in seinem (unveröffentlichten) Tagebuch unter dem Datum 23.1.1945: 


"Gestern Abend haben wir noch schwere Kisten auf unseren Wagen laden lassen. ...Man hört den unheimlichen Geschützdonner der immer näher rückenden Front. Auf der Hauptstraße rollen unentwegt Flüchtlingstrecks gen Westen... 

Ich werde heute noch mit einem Rundschreiben über Lichtsparen durchs Dorf geschickt. In der Zeitung stand auch noch, daß morgen wieder die Schule beginnt und wir eigentlich in unsere Pension nach Marienburg zurückkehren sollten... 

Wir gehen noch einmal durch die Ställe und nehmen Abschied vom Vieh, den Pferden, den Schweinen und vom ganzen Hof.. Bei der letzten Abendmahlzeit - Reis mit Zucker und Zimt - haben wir geschluckt und gewürgt und keinen Bissen herunterbekommen. Unsere Augen wanderten von einem zum andern, vom Schreibtisch zum Klavier, vom schwarzen Schrank- zum Kachelofen, Tränen standen uns in den Augen. 

Lumpi sperrten wir ins Leute-Eßzimmer, damit er uns nicht nachlaufen sollte. Inzwischen hören wir, die Russen sind in Elbing und auch Lichtfelde ... Als wir endlich auf dem Wagen sitzen, hat man Zeit zum Nachdenken. Ob wir unser Klettendorf wohl wiedersehen, ob es durch Kampf zerstört wird? Wie wird es aussehen, wenn wir wiederkommen? 

Wir fahren Schritt. Die Gummiräder mahlen durch den tiefen Schnee. Die Nacht ist sternenklar, es ist recht kalt, aber uns ist vor Aufregung noch warm .... Die Straße ist spiegelglatt und wir kommen nur sehr langsam voran. Der Kanonendonner rückt immer näher. ...

In Sandhof sind die Straßen vollständig verstopft und wir stehen Stunden um Stunden. In den Straßengräben liegen Waffen, Munition, tote Pferde und umgestürzte Wagen. Morgens um 5 Uhr fahren wir durch Marienburg. An der Burg müssen wir lange warten. ...Um 7 Uhr sind wir endlich auf der Nogatbrücke. ... In Kunzendorf füttem wir zum ersten Mal die Pferde. Wir sind völlig erschöpft, denn durch den hohen Schnee sind wir viel zu Fuß gegangen." 


Dieses ist nur die erste Nacht eines sich über Monate dahinziehenden Dramas. Mit dem Treck, später zu Fuß oder per Schiff über Gotengafen flüchten die Familienangehörigen gen Westen. Allein auf der GOYA, einem von der russischen Marine torpedierten Passagierschiff, lassen in der Nacht vom 16. zum 17. April 1945 elf Verwandte ihr Leben. 


Schlimme Qualen müssen insbesondere jene Familienmitglieder durchleiden, die von der Front überrollt, der Willkür von Russen und Polen ausgesetzt sind. Raub, Vergewaltigung, jahrelange Zwangsarbeit im Internierungslager oder Deportation nach Rußland bleiben manchen von ihnen nicht erspart.  


Die anderen landen als Flüchtlinge, als Menschen 2. Klasse, irgendwo im Westen, wo sie das Schicksal und der Zufall hintreiben. Familienbande und Gemeindestrukturen werden zerrissen. 

Das Gros der Familie gelangt nach Norddeutschland. Etliche befinden sich in Intemierungslagern in Dänemark, aus denen sie zunächst nicht ausreisen dürfen. Die neuen Standorte sind für einige Wiehlers nur Durchgangsstation, für andere werden sie später zur neuen Heimat: Radevormwald, Bramstedt, Ratingen, Remscheid, Buxtehude, Freimersheim, Nustrow, Mukran, München, Thomashof, Enkenbach, Westerstede, Oldendorf, Rheinbrohl...... etc. 


Ehemänner, Väter, Geschwister kehren erst nach Jahren der Kriegsgefangenschaft zurück, andere bleiben vermißt, verschollen oder sind gefallen. Entsprechend lang ist die Liste der Familienmitglieder, welche im Krieg oder bei der Vertreibung ihr Leben ließen. 


Die Not ist groß, es fehlen Nahrungsmittel, Kleidung, Unterkunft. Umso größer ist die Freude, als 1947 die ersten CARE-Pakete amerikanischer Mennoniten eintreffen. Sie haben manche Familienmitglieder buchstäblich vor dem Verhungern bewahrt. In Norddeutschland versuchen Dr. Ernst CROUS und seine Frau Rose die verstreut lebenden Gemeindemitglieder zu sammeln und zu beraten. Sie organisieren von Göttingen aus die Verteilung von Spenden aus Amerika und geben Ratschläge in Auswanderungsfragen, bei der Suche nach Arbeit, nach Angehörigen, nach Trost. 


So wendet sich u.a. der Tierarzt Johannes Wiehler, aus Fischau, Krs. Marienburg, geb. am 18.8.1916 an Dr. Crous mit einem für die damalige Zeit typischen Anliegen. In einem Brief vom 19.8.1946 heißt es: 


"Sehr geehrter Herr Dr. Crous! Von Herrn Prof Unruh, Karlsruhe erfuhr ich, daß Sie Meldungen zur Auswanderung von reichsdeutschen Mennoniten bearbeiten. Da ich als ehemaliger Westpreuße nicht mehr in meine Heimat zurückkehren kann, habe ich die Absicht, sobald als möglich, nach Kanada oder Brasilien auszuwandern. Ich bitte Sie, mir nähere Angaben über erforderliche Dokumente ... zu machen.... Vielleicht können Sie mir auch anhaltsweise einen Zeitpunkt angeben, zu dem frühestens mit einem Abtransport zu rechnen wäre..." 


Diesmal ist es überwiegend die wirtschaftliche Not, welche viele zum Verlassen Deutschlands zwingt. Insbesondere die vertriebenen Landwirte finden in Westdeutschland keine Arbeit, keinen landwirtschaftlichen Betrieb, den sie übemehmen können. 


Es wird geschätzt, daß knapp die Hälfte jener Wiehlers, die als Flüchtlinge aus Westpreußen nach Westdeutschland gelangten, im Zeitraum zwischen 1948 und 1953 ausgewandert sind. Bevorzugtes Auswanderungsziel ist der westliche Teil Kanadas. Hier entstehen in Calgary in der Provinz Alberta sowie in Agassiz und in Vancouver in der Provinz British Columbia neue Zentren der Familie. 


Aber auch die U.S.A., Argentinien, Uruguay, Parguay sind Auswanderungsziele. Einen genauen Überblick über den gesamten Umfang der Wanderungsbewegungen der Großfamilie hat heute offensichtlich niemand mehr, da der familiäre Zusammenhalt durch Vertreibung und Auswanderung nach Übersee gelitten hat. 


Der 3. Wiehler-Tag 1995 in Weierhof - es ist das erste große Treffen des "Clans" in der Nachkriegszeit - wird u.a. auch dazu dienen, genauere Auskunft über die weltweite Ausbreitung der Wiehlers zu erhalten. Das Adressenverzeichnis dieser Chronik gibt darüber bereits erste Auskunft. 


Der Neubeginn, ob in Deutschland, Kanada oder anderswo war für die Mehrzahl der Angehörigen eine große Herausforderung. In seinem bisherigen Beruf konnte kaum jemand tätig werden. So kommt es, daß heute so gut wie kein Wiehler mehr als Landwirt seinen Unterhalt verdient. 


Die männlichen und weiblichen Nachfahren von Generationen westpreußischer Bauern arbeiten heute als Lehrer oder Lehrerin, Ingenieur, Architektin, Programmierer, Berater in der Landwirtschaft, Wirtschaftswissenschaftler, Rechtsanwältin, Theologe, Botaniker, Beamtin, Mediziner, Sozialarbeiter, Künstlerin, Unternehmer, Bauarbeiter, Computerexperte, Verwaltungsfachfrau, Entwicklungshelferin, Krankenschwester, Pfleger, Richter, Bürgermeister, Kaufmann, Buchhalterin, etc, etc.. 


Geändert hat sich auch für viele die Verbindung zur mennonitischen Kirche. In der Regel sind heute die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten Anlaß zur Standortbestinunung. Diese berufliche Mobilität hat nicht nur Konsequenzen für den Zusammenhalt der Familie und auch der Großfamilie sondern auch für die Bindung an die jeweilige Mennonitengemeinde. So ist es erklärlich, daß einige Familienmitglieder heute gar nicht mehr recht wissen, woher sie kommen und woran sie sich orientieren sollen.